June 23, 2022

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Wer den Rhythmus wirklich fühlt

Rhythmusgefühl: Trotz gefundener Gene sagt ein genetischer Test wenig darüber aus, ob ein Kind beim Schlagzeugunterricht besonderes Talent beweisen wird.
Trotz gefundener Gene sagt ein genetischer Test wenig darüber aus, ob ein Kind beim Schlagzeugunterricht besonderes Talent beweisen wird.

Können Sie zu einem musikalischen Rhythmus klatschen? Dass die Mehrheit der Menschen dazu in der Lage ist, zeigen nicht nur die Volksmusiksendungen im Fernsehen. Auch in einer Studie, die gerade in der Zeitschrift Nature Human Behavior veröffentlicht wurde (Niarchou et al., 2022), sagten 92 Prozent der Teilnehmer, sie könnten das. Das Ziel der wissenschaftlichen Arbeit war es, genetische Unterschiede zwischen Menschen mit gutem und schlechtem Rhythmusgefühl zu finden. Und tatsächlich fanden die Forschenden an 67 Positionen im menschlichen Erbgut Gene, die möglicherweise zu einem Rhythmusgefühl beitragen. Dies ist das erste Mal, dass in einer genomweiten Suche (genome wide association study, GWAS) Erbfaktoren für musikalische Fähigkeiten identifiziert werden konnten.

"Es gibt ja unter Musikern diese Scherze über Sängerinnen und Sänger, die angeblich keinen Rhythmus halten können, aber ich habe ein ziemlich gutes Rhythmusgefühl", sagt Reyna Gordon. Die klassisch ausgebildete Sängerin beschäftigt sich in ihrem Hauptberuf als Forscherin am Music Cognition Lab der Vanderbilt University in Nashville im US-Staat Tennessee mit musikalischen Fähigkeiten und der Frage, welchen Einfluss die auf unser Sprachvermögen haben. Hirnstudien haben schon viele Zentren im Gehirn identifiziert, die mit musikalischen und sprachlichen Fähigkeiten zu tun haben, aber die genetischen Grundlagen dafür lagen bisher weitgehend im Dunklen.

Gordon fand eine ganze Anzahl von Genetikerinnen und Neurowissenschaftlern, die bereit waren, mit ihr eine entsprechende Genstudie durchzuführen. Vor allem aber war die Forschungsabteilung der kommerziellen Gendatenbank 23andMe bereit, den Datenfundus der Firma für die Arbeit zur Verfügung zu stellen. Über 600.000 Kunden von 23anMe beantworteten die eingangs gestellte Frage – und die Forschenden durchkämmten mit ausgefeilten statistischen Methoden all diese Genome. Gab es Unterschiede zwischen denen, die mit "ja" antworteten und den wenigen, die "nein" sagten?

Damit diese Anstrengung überhaupt einen Sinn ergeben konnte, brauchte es zunächst eine Antwort auf die Frage, ob diese Selbstauskunft wirklich die unterschiedlichen rhythmischen Fähigkeiten der Menschen widerspiegelte. In anderen Bereichen neigen Menschen ja zur Selbstüberschätzung, halten sich etwa für besonders schlau, auch wenn der IQ-Test das Gegenteil zeigt. Dazu wandte sich Reyna Gordon an Nori Jacoby, einen Musikforscher am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Jacoby hat eine Software entwickelt, mit der sich die Fähigkeit, synchron zu einem vorgegebenen Rhythmus auf den Computer zu tippen, sehr präzise auch in Onlineexperimenten messen lässt. Mit dieser Software testeten Jacoby und seine Mitarbeiter gut 1.400 über die Plattform Mechanical Turk rekrutierte Freiwillige – und tatsächlich entsprachen die rhythmischen Fähigkeiten weitgehend der Selbstauskunft.

Wie so oft ist die Umwelt der wichtigste Faktor

Das Hauptergebnis der Genstudie war erwartbar: Es gibt nicht das eine "Rhythmus-Gen". Das musikalische Taktgefühl ist eine komplexe Fähigkeit, das von vielen unterschiedlichen Genen beeinflusst wird. Und dieser Einfluss ist relativ gering – nur zu 13 bis 16 Prozent hängt diese Fähigkeit von erblichen Faktoren ab. Es ist die Umwelt, die den Rest bestimmt: Häufiges Musikhören und natürlich aktives Musizieren machen einen guten Schlagzeuger oder eine gute Perkussionistin aus.

Und was für Gene sind es, die mit dem Rhythmusgefühl zu tun haben? Auch da gilt: Jedes dieser Gene trägt zu vielen anderen menschlichen Eigenschaften bei, man muss mit Big-Data-Algorithmen nach Zusammenhängen suchen. Und dabei fanden die Forschenden Korrelationen mit anderen körperlichen Funktionen, die etwas mit biologischen Rhythmen und dem Zeitempfinden zu tun haben. Etwa mit dem Gang, aber auch mit dem Atem. Und interessanterweise scheinen Menschen, die zu den späten Chronotypen gehören, also gern spät aufstehen und zu Bett gehen, ein besonders ausgeprägtes Rhythmusgefühl zu haben. Musiker sind Nachteulen – hier bestätigt die Studie ein geläufiges Vorurteil.

Aniruddh Patel, ein Musikforscher an der Tufts University in der Nähe von Boston, zeigt bei seinen Vorträgen gerne YouTube-Videos von Papageien und Kakadus, die perfekt synchron zu dröhnender Rockmusik tanzen. Offenbar gibt es im Tierreich manche Spezies, die ähnliche rhythmische Fähigkeiten haben wie wir – und sie sind evolutionär recht weit von uns entfernt. Unsere nächsten Verwandten dagegen, die Menschenaffen, sind komplett unmusikalisch. Ein Zeichen von sogenannter Koevolution: Dieselbe Eigenschaft hat sich mehrmals unabhängig voneinander entwickelt. Und das Frappierende: Diese Papageienvögel sind wie wir "vokale Lerner" – sie sind zum Beispiel in der Lage, menschliche Sprache nachzuplappern. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Rhythmusgefühl und Sprachfähigkeit etwas miteinander zu tun haben.


Deshalb ist Patel, der nicht an der aktuellen Studie beteiligt war, begeistert von deren Ergebnissen, so rudimentär sie auch noch sein mögen. "Dies ist ein Meilenstein in der Erforschung von Musik und Hirn", sagt er. Unter den gefundenen Genen sind auch welche, die mit der Ausbildung der Sprachzentren im Gehirn zu tun haben. "Das weist darauf hin, dass hier wirklich reale Zusammenhänge gefunden wurden."

Unsere Musikalität ist evolutionär ziemlich jung – sie hat sich offenbar erst nach dem letzten gemeinsamen Ahnen von Affe und Mensch entwickelt. Aber wann? Darüber wird in der Wissenschaft akut heftig debattiert, und Experimente wie die aktuelle Genstudie könnten zu einer Antwort beitragen. Darauf weist Nori Jacoby hin: "Wir könnten zum Beispiel im Genom des Neandertalers nach diesen Genen suchen. Aber das ist alles noch sehr vorläufig." Was Jacoby als nächstes interessiert: Gibt es beim Rhythmusgefühl Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien? Aus methodischen Gründen beschränkte sich die aktuelle Studie auf Probandinnen und Probanden, deren 23andMe-Profil eine europäische Herkunft ausweist. Nory Jacoby untersucht in seinen Studien, ob zum Beispiel Ureinwohner im bolivianischen Regenwald Musik ähnlich empfinden wie wir.

Sobald solche ethnischen Unterschiede bei ästhetischen Empfindungen angesprochen werden, gehen aber auch bei vielen die Alarmlampen an. "Es gibt da eine ziemlich schreckliche Geschichte auf dem Gebiet der Musikforschung, etwa als versucht wurde, die angeblich geringeren musikalischen Fähigkeiten von Schwarzen US-Amerikanern nachzuweisen", erzählt Reyna Gordon. Ihr Team arbeitet daher mit Bioethikern daran, Grundsätze für eine ethisch verantwortliche Forschung über musikalische Gene zu entwickeln.

Die aktuellen Ergebnisse sind ein spannendes Beispiel für Grundlagenforschung – sie sind nicht dazu geeignet, etwa einen Gentest zu entwickeln, mit dem man das musikalische Talent von Kindern frühzeitig entdecken könnte. "Wenn wir etwas über die rhythmischen Fähigkeiten von Menschen wissen wollen, dann sollten wir ihnen rhythmische Aufgaben geben", sagt Reyna Gordon. Aber umgekehrt könnten Rhythmustests, die relativ einfach durchzuführen sind, bei der Diagnose etwa von sprachlichen Behinderungen helfen. Und sie könnten sogar bei der Therapie von Nutzen sein, glaubt Aniruddh Patel. "Vielleicht kann man Kindern mit Sprachstörungen helfen, indem man mit musikalischen Übungen die entsprechenden Hirnregionen trainiert."

Einig sind sich die Forschenden, dass unsere Gene nicht darüber entscheiden, ob wir musikalische Fähigkeiten entwickeln können oder nicht. "Ich glaube nicht, dass diese Fähigkeiten in Stein gemeißelt sind", sagt Reyna Gordon. "Und auf keinen Fall sollten Sie ihr Kind einem Gentest unterziehen, bevor Sie es zum Schlagzeugunterricht anmelden!"