Kürzlich twitterte der Science-Fiction-Autor William Gibson einen 25 Jahre alten Textkasten mit zehn düsteren Zukunftsperspektiven, der zu einer Titelstory aus der Zeitschrift "Wired" gehörte. Gibson nannte ihn "pervers pessimistisch für die damalige Zeit". Der Tweet ging viral. Dabei war jener Kasten eigentlich nur ein Anhängsel der größeren Magazingeschichte, die einen "langen Boom" und die Segnungen einer digitalen Gesellschaft vorhersagte. ZEIT ONLINE sprach mit einem der beiden Autoren, Peter Leyden, genau ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung des Artikels. In der deutschen Übersetzung duzen sich die beiden Interviewpartner, weil sie seit einigen Jahren auch privat miteinander bekannt sind.
ZEIT ONLINE: Der Science-Fiction-Autor William Gibson hat die zehn Spoiler aus eurem 25 Jahre alten Artikel auf Twitter gepostet. Viele reagierten beeindruckt darauf: "Oh, da hat jemand all diese Katastrophen schon vor 25 Jahren kommen sehen!" Was wolltet ihr damals mit eurem Artikel erreichen?
Peter Leyden: Der Hauptartikel mit dem Titel The Long Boom ("Der lange Boom") war 14.000 Wörter lang und erzählte eine Geschichte der Welt von 1980 bis 2020. Interessant waren natürlich die Spekulationen über die nächsten 25 Jahre, etwa bis 2020. Mitte der Neunzigerjahre hatten die meisten Menschen keine Ahnung, wie eine digitale Wirtschaft funktionieren könnte. Wir machten uns Gedanken darüber, wie der Fall der Mauer und das Ende der Sowjetunion die Weltwirtschaft verändern würden. Die Idee hinter der Geschichte war, nicht genau die Zukunft vorherzusagen, sondern ein Gefühl dafür zu vermitteln, was passieren könnte. Eine positive Geschichte zu erzählen und keine verrückte Dystopie.
ZEIT ONLINE: Wie kam es denn zu den zehn negativen Vorhersagen?
Leyden: Ich arbeitete damals mit einem der weltbesten Szenarienentwicklern zusammen, Peter Schwartz. Jeder, der sich mit Szenarien beschäftigt, weiß, dass man die Zukunft nicht exakt vorhersagen kann. Und so sagten wir den Lesern von Wired damals: Es wird diesen "langen Boom" geben, aber nicht alles wird perfekt laufen. Es wird eine Menge Hindernisse auf dem Weg geben. Hier sind die zehn, die wir für die problematischsten halten. William Gibson hat als Science-Fiction-Autor eine eher negative Sicht auf die Dinge. Er hat sie herausgepickt und gesagt, dass alle zehn auf irgendeine Weise Realität geworden sind. Aber das größere Thema ist, dass auch diese Rückschläge die digitale Revolution, die Globalisierung, den Aufstieg Chinas und all die anderen Dinge nicht aufhalten konnten.
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ZEIT ONLINE: Vielleicht ging Gibsons Tweet deshalb viral, weil im Moment viele Menschen das Gefühl haben, sich in einer schlimmeren Situation zu befinden als jemals zuvor in ihrem Leben. Alles kommt zusammen: der Krieg, die Pandemie, der Klimawandel, die Entscheidung des obersten Gerichtshofs der USA zum Schwangerschaftsabbruch …
Leyden: … die haben wir nicht vorhergesehen!
ZEIT ONLINE: Dafür jede Menge anderes. Nur um das noch mal deutlich zu machen: Du hast deinen Artikel geschrieben, bevor es Google gab, bevor das menschliche Genom entschlüsselt wurde, zehn Jahre vor dem ersten Smartphone.
Leyden: Der Juli 1997 war der Monat, in dem die Firma Apple Steve Jobs anflehte, zurückzukommen und den Posten des CEO zu übernehmen. Das Unternehmen stand vor der Pleite. Aber wir alle wissen, dass es später das erste Billionen-Dollar-Unternehmen wurde. Das zeigt, wie weit hergeholt unsere Vision zu dieser Zeit schien. Amazon verkaufte einfach nur Bücher online und das mit Verlust. Als wir diese The-Long-Boom-Geschichte geschrieben haben, hielten uns die Leute für verrückt.
ZEIT ONLINE: Und drei Jahre später ist die Dotcom-Blase geplatzt. Hat dich das ins Zweifeln gebracht?
Leyden: Wir behaupteten nicht, dass es keine Höhen und Tiefen, Abstürze und Aufschwünge geben würde – alles Dinge, die bei neuen Technologien immer wieder passieren. Der long boom betraf mehrere Ebenen: Erstens sprachen wir von einem grundlegenden Technologieboom. Wir sagten voraus, dass diese neue Computertechnologie immer leistungsfähiger werden und schließlich in die Hände jedes Menschen auf dem Planeten gelangen würde. Und wir verbanden dies mit dieser neuen Telekommunikationsinfrastruktur, dem Internet. Wenn man diese beiden Dinge zusammennehme, sagten wir, dann werde das einen Wirtschaftsboom auslösen. Im Laufe der Zeit, so lautete unsere Vorhersage, würden diese digitalen Unternehmen zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gehören und in den 2020er-Jahren die Weltwirtschaft dominieren. Und das hat sich total bewahrheitet.
ZEIT ONLINE: Ich weiß, dass ein Szenario keine exakte Vorhersage der Zukunft sein soll, aber lass uns einige der Prognosen durchgehen, die ihr in eurer Geschichte gemacht habt. "Um 2005 herum werden 20 Prozent der US-Amerikaner ihre Lebensmittel online einkaufen."
Leyden: In den späten Neunzigerjahren gab es zwar eine Welle von Lebensmittel-Liefer-Start-ups, die dann im Crash untergingen. Aber letztlich hat sich die Vorhersage, dass die Leute am Computer sitzen und alles Mögliche bestellen, völlig bewahrheitet. Ist es bis 2005 genau so gekommen? Nein. Aber ist es irgendwann passiert? Ganz klar.
ZEIT ONLINE: Ihr habt vorausgesagt, dass wir bis 2010 wasserstoffbetriebene Autos fahren würden. "Wasserstoff wird in raffinerieähnlichen Anlagen produziert und Autos können Tausende Kilometer mit einer Tankfüllung fahren."
Leyden: Gut, dass du das erwähnst. Schon in den Neunzigerjahren konnten wir die Anfänge des Klimawandels sehen. Und wir fragten uns auch, ob uns das Öl ausgehen würde. Es gab eine ernsthafte Diskussion darüber, ob Wasserstoffbrennstoffzellen die Alternative zum Verbrennungsmotor sein würden. Das ist nicht eingetreten. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen – aber ja, das war eine Fehlprognose. Richtig ist jedoch, dass der Mensch sich vom Verbrennungsmotor verabschieden wird. Und zum Glück für uns alle hat Elon Musk die Elektrofahrzeugindustrie auf den Weg gebracht. Daran sieht man, das tatsächlich einzelne Menschen Geschichte machen können. Hätte es nicht die richtige Person zur richtigen Zeit gegeben, dann hätte es auch anders ausgehen können. Aber dass der Verbrennungsmotor am Ende ist, das können wir abhaken. Das ist Geschichte.
ZEIT ONLINE: "Um 2012 wird eine Gentherapie gegen Krebs perfektioniert. Fünf Jahre später kann fast ein Drittel der 4.000 bekannten Erbkrankheiten durch Genmanipulation vermieden werden."
Leyden: Als wir unseren Artikel schrieben, hatte das Human Genome Project gerade Halbzeit. Es war auf 15 Jahre angelegt und sollte das erste menschliche Genom entschlüsseln. 2003 war es so weit. Eines der Probleme bei Zukunftsszenarien ist, dass man die Dinge tendenziell früher verwirklicht sieht, als sie dann tatsächlich passieren. Tatsächlich aber gibt es jetzt eine ganze Reihe Forschungen zur Krebsbekämpfung, die auf dem individuellen Genom basieren und die versuchen, einzelne Gene gezielt zu verändern. Das wird wahrscheinlich in diesem Jahrzehnt noch keine Anwendung finden. Wir lagen also ein bisschen früh mit unserer Prognose – aber es ging in die richtige Richtung.
ZEIT ONLINE: "Bis 2015 wird es eine zuverlässige automatische Simultanübersetzung von Sprachen geben." Da habt ihr euch nur um ein paar Jahre vertan, oder? Google Translate macht das heute ziemlich gut.
Leyden: Stimmt, es wird definitiv in diesem Jahrzehnt perfektioniert werden.
ZEIT ONLINE: Aber das ist Teil einer Technik, die ihr nicht kommen saht: künstliche Intelligenz, die Deep-Learning-Revolution, die um 2012 begann. Ihr habt wohl nicht angenommen, dass jedes zweite Unternehmen im Silicon Valley eine KI-Firma sein würde. Kein Wunder: Als ihr euren Artikel schriebt, befanden wir uns noch im KI-Winter – die KI-Forschung war praktisch zum Stillstand gekommen.
Leyden: Ja, dem würde ich zustimmen. Wir haben das nicht in dieser Weise kommen sehen.
ZEIT ONLINE: Dafür habt ihr große Hoffnungen in die Nanotechnologie gesetzt. "Winzige Sensoren, die man in den Blutkreislauf einer Person einführt und die Informationen über deren Gesundheitszustand liefern. Bis 2018 werden Mikromaschinen in der Lage sein, grundlegende Zellreparaturen durchzuführen." Das war in den Neunzigerjahren ein großer Hype.
Leyden: Ja, wir haben darin eine grundlegende Zukunftstechnologie gesehen und das war in dieser Größenordnung ein Fehler. Wir dachten an diese molekulare Version der Nanotechnologie, die im Wesentlichen eine mikroskopisch verkleinerte Version der Mechanik war.
ZEIT ONLINE: Was nicht einmal funktioniert, auf dieser Nanoebene herrschen ganz andere physikalische Verhältnisse.
Leyden: Nein, ich glaube nicht, dass es funktioniert. Aber was wir unterschätzt haben, ist das, was man heute als synthetische Biologie bezeichnet, nämlich das Re-Engineering von Lebewesen – Pflanzen, Tieren und schließlich Menschen. Sie ersetzt im Wesentlichen die Nanotechnologie: Wir nutzen die Biologie, um Dinge Molekül für Molekül zu konstruieren.
ZEIT ONLINE: Crispr ist also eine Art Nanotechnologie?
Leyden: Ganz genau. Wenn wir über die nächsten 30 Jahre nachdenken, dann werden die Biotechnologie und die synthetische Biologie die aufregendsten Innovationen liefern. Im Gegensatz zum letzten Mal, als wir einen historischen Boom einer einzigen Technologie hatten, der Informationstechnik, haben wir jetzt drei große Technologiebooms: die zweite Welle der Informationstechnik, deren treibende Kraft die KI ist, dazu die Energietechnik und die Biotechnologie. Und ich glaube, dass diese drei Booms in einer ähnlich langen Welle neue Industrien begründen und ein großes Wirtschaftswachstum erzeugen werden. Ich bin also überzeugt, dass der long boom weitergehen wird.
ZEIT ONLINE: "Im Jahr 2020 werden Menschen auf dem Mars landen."
Leyden: Das war weniger eine tatsächliche Vorhersage, sondern als Abschluss der Geschichte eine Metapher für die nächste Ära der menschlichen Zivilisation. Wir dachten, dass die aufkommende private Raumfahrtindustrie uns zum Mars bringen würde. Und obwohl es noch nicht so weit ist, wird das langsam absehbar. SpaceX hat die Raumfahrtindustrie völlig revolutioniert und Bezos und andere setzen jetzt noch einen drauf. Wir werden also zum Mars kommen, davon bin ich überzeugt.
ZEIT ONLINE: Lass uns zur Politik kommen. Im Grunde habt ihr gesagt, dass die Globalisierung für alle Menschen auf diesem Planeten gut ist und dass das alle einsehen werden und glücklich bis ans Ende seiner Tage leben.
Leyden: Ich würde das ein bisschen anders formulieren. Aber generell, ja.
ZEIT ONLINE: Vier Jahre später wurden die Twin Towers zerstört. Ich denke, das hat gezeigt, dass vielleicht nicht alle mit der Entwicklung zufrieden waren.
Leyden: Mitte der Neunzigerjahre herrschte die Grundstimmung, dass die Globalisierung für die Menschheit im Allgemeinen gut sein würde. Und ich würde behaupten, dass sie trotz der Gegenbewegung, trotz des 11. Septembers und anderer Ereignisse, tatsächlich eine grundsätzlich positive Wirkung hatte. Allein in China wurden 800 Millionen Bauern, die von zwei Dollar am Tag lebten, in die Städte und in eine funktionierende Wirtschaft gebracht und in der ganzen Welt ist die extreme Armut in dieser Globalisierungsära dramatisch zurückgegangen. Es gibt viele Megatrends bei der Verstädterung, bei der Bildung der Frauen, bei den Geburtenraten …
ZEIT ONLINE: … die Millenniumsziele der UN wurden im Grunde alle im Jahr 2015 erreicht.
Leyden: Ehrlich gesagt: Wenn man ein Los ziehen würde, in welche historische Epoche man hineingeboren wird, dann sollte man sich wünschen, die Gegenwart zu ziehen. Wir haben in diesen zehn Spoilern potenzielle Probleme angesprochen – etwa den Terrorismus und politische Gegenbewegungen. Trotzdem haben wir gesagt, dass die digitale Revolution im Allgemeinen etwas Positives sein würde, dass sie Wohlstand schaffen und Menschen miteinander verbinden würde. Allerdings haben wir nicht mit sozialen Medien und der Manipulation von Wahlen gerechnet.
ZEIT ONLINE: Ihr habt das Wachstum Chinas vorhergesagt, aber ihr habt nicht geglaubt, dass sich das Land in eine Demokratie verwandeln würde.
Leyden: Es war schwer vorstellbar, dass China sich demokratisieren würden. Aber man konnte damals hoffen, dass Russland Teil der westlichen entwickelten Weltwirtschaft werden würde. Diese Hoffnung starb mit Putin und das war auch einer dieser zehn Spoiler. Wir schrieben, dass Russland ein Quasi-Kommunismus-Revival erleben und zu einer Bedrohung für Europa werden könnte, was sich leider bewahrheitet hat. Wenn ich jetzt 25 Jahre zurückblicke, dann ist die Politik die Kategorie, die am schwersten vorherzusagen ist. Sie ist – im Guten wie im Schlechten – abhängig vom Charakter von Führungspersönlichkeiten, insbesondere von verrückten Anführern. Menschen sind einfach sehr schwer zu fassen. Ich habe Trump jedenfalls nicht kommen sehen!
ZEIT ONLINE: Lass uns über die Vereinigten Staaten sprechen. Ihr schriebt: "Fast jeder wird verstehen, dass wir uns im Übergang zu einer vernetzten Wirtschaft und Gesellschaft befinden, es ist sinnvoll, alle an Bord zu holen." Sind alle an Bord?
Leyden: Nein, aber das war so eine Art Schlusschor des Stücks und daher ein bisschen blumig formuliert. Wir befinden uns eindeutig in einer vernetzten Wirtschaft und ich würde auch behaupten, dass wir jetzt in eine vernetzte Gesellschaft übergegangen sind – im Guten wie im Schlechten. Aber ich glaube, wir haben die Gegenreaktion unterschätzt, insbesondere seit 2016.
ZEIT ONLINE: Man könnte sagen, dass die Leute, die für Trump gestimmt haben, diejenigen sind, die nicht mit an Bord sind.
Leyden: Denen gefällt die Entwicklung nicht. Und sie haben eine Menge Instrumente, diesen Wandel zu vermasseln. Wir sehen es jetzt beim obersten Gerichtshof und seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. Der nächste Knaller war Ende Juni die juristische Einschränkung der Regierung, den Klimawandel zu bekämpfen. Ich will die Abbruchsfrage nicht herunterspielen, aber die Frage des Klimawandels wird der konservativen Bewegung das Genick brechen. Ich glaube, sie wird eine Gegenreaktion auslösen, die im nächsten Jahrzehnt zu einigen grundlegenden strukturellen Reformen der US-amerikanischen Politik führen wird. Diese konservative Bewegung ist nicht mehr im Einklang mit der Mehrheit der US-Amerikaner. Die Leute versuchen verzweifelt, an der Macht zu bleiben, manipulieren das System, schränken das Wahlrecht ein – dies ist eine verzweifelte, in die Enge getriebene, politische Verliererkoalition.
ZEIT ONLINE: Ich war auf einer Veranstaltung, auf der du den kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom interviewt hast. Du hast dort im Grunde Kalifornien und seine liberale, von Demokraten dominierte Politik als Modell für das ganze Land propagiert. Wenn du das den Menschen im Mittleren Westen erzählst, werden sie mit Mistgabeln auf dich zukommen. Und selbst in der Gegend um San Francisco gibt es Gewinner und Verliererinnen, wenn man auf die Obdachlosen auf den Straßen schaut und auf die Immobilienpreise, die sich nur die Angestellten Googles und anderer Techfirmen leisten können. Hältst du die Vorstellung, dass alle vom digitalen Wandel profitieren, immer noch aufrecht?
Leyden: Unsere Vorhersage von vor 25 Jahren endete im Jahr 2020. Damals habe ich mir überlegt: Was wäre, wenn ich die Geschichte heute noch einmal erzählen würde, mit einem Blick 25 Jahre nach vorn oder ungefähr bis 2050? Wie sieht dann die Zukunft aus? Ich bin immer noch sehr optimistisch, was die neuen Technologiewellen angeht. Ich glaube, dass sich die US-amerikanische Gesellschaft an einem historischen Wendepunkt befindet, der mit der Zeit während des Bürgerkriegs oder mit den Dreißigerjahren vergleichbar ist. In beiden Fällen entstanden grundlegend neue Wirtschaftszweige und auch Koalitionen von Generationen, die das Land nach vorn bringen wollten. Und stets gab es eine Klasse, die im alten System verwurzelt war und immer verzweifelter daran festhielt.
ZEIT ONLINE: An welchen Fragen werden sich denn in der Zukunft die Geister scheiden?
Leyden: In der jetzt entstehenden neuen Wirtschaft geht es um saubere Energie, um den Klimawandel. Die grundlegenden Veränderungen werden nicht von einem 80-Jährigen wie Biden kommen, der alles nur noch ein paar Jahre zusammenzuhalten versucht. Es wird eine 60-Prozent-Mehrheit von Menschen geben, die diese nachhaltige Gesellschaft vorantreiben und aufbauen wollen. Mein neues Szenario ist genauso optimistisch wie das aus den Neunzigerjahren. Es ist nicht unrealistisch, aber es ist für die Menschen heute genau wie 1997 schwer zu verstehen und zu glauben. Ich gebe dir ein Beispiel: Ich halte seit 20 Jahren viele öffentliche Vorträge. Und vor zehn Jahren konnte ich den Klimawandel vor einem Unternehmerpublikum nicht einmal erwähnen, ohne dass die Leute mich buchstäblich anschrien. Jetzt spreche ich mit Geschäftsleuten über eine nachhaltige Zukunft und sie sind mit von der Partie.
ZEIT ONLINE: In eurem Artikel von 1997 spracht ihr über die Generation der Millennials. Ich glaube, ihr gehörtet zu den Ersten, die dieses Wort verwendet haben.
Leyden: Wir haben den Begriff nicht geprägt, aber wir gehörten tatsächlich zu den Ersten.
ZEIT ONLINE: Heute ist "Millennial" fast schon eine Beleidigung, viele Babyboomer und Vertreterinnen der Generation X beklagen sich über die Millennials. Aber das ist die Generation, welche die Veränderungen herbeiführen muss, von denen du sprichst.
Leyden: Sie und die Generation Z, die nach ihr kommt. Auch das ist in der US-amerikanischen Geschichte häufig der Fall: An solchen Wendepunkten wird die Politik um neue Koalitionen herum neu konfiguriert und das ist oft generationenabhängig. Die Millennials sind ähnlich groß und einflussreich wie die Boomer es waren. Aber die Generation nach ihnen, die Generation Z, ist viel stärker mit ihnen verbunden, als es die Generation X mit den Boomern war. Wir werden es also mit einer doppelten Generationenallianz zu tun haben. Übrigens bestehen in den USA beide Generationen zu je 50 Prozent aus Weißen und People of Color. Wenn Sie also fragen, ob die Vereinigten Staaten der Zukunft aus fanatisch religiösen, schwangerschaftsabbruchsfeindlichen, waffenbegeisterten Menschen bestehen wird, dann lautet die Antwort: nein. Die neuen Generationen sind divers, urban, multikulturell. US-Amerikanische Unternehmen wissen das und deshalb haben sie sich auf die Vielfalt und die Klimapolitik eingelassen. Sie wissen, wo ihre Arbeitnehmer und ihre Kunden stehen. Und deshalb ist die US-amerikanische Politik im Moment so angespannt, weil die Verliererseite verzweifelt versucht, ihre konservative Agenda endlich zu Ende zu bringen.
ZEIT ONLINE: Und sie wird uns alle mit sich in den Abgrund reißen?
Leyden: Sie werden es versuchen, aber ich glaube nicht, dass sie gewinnen werden. Die USA werden eine Wiedergeburt erleben und wir werden die neuen Herausforderungen bewältigen.
ZEIT ONLINE: Seit der Präsentation Mark Zuckerbergs im letzten Herbst wird viel über das Metaversum gesprochen. Glaubst du, dass wir in 20 Jahren alle in virtuellen oder zumindest gemischten Welten leben werden? Oder handelt es sich um einen Hype wie die Nanotechnologie in den Neunzigerjahren?
Leyden: Langfristig gesehen ist das Metaverse kein Hype. In 20 Jahren werden die Menschen sehr viel Zeit in immersiven virtuellen, internetbasierten Umgebungen verbringen. Man muss nur hochrechnen, wie viel Zeit junge Menschen heute in Onlinespielen wie Roblox oder Minecraft verbringen und wie viel besser diese Onlinewelten in den kommenden Jahren sein werden. Wenn sie erwachsen sind, werden diese Kids und die nachfolgenden Generationen in diesen Welten viel mehr tun, als sich nur gegenseitig zu erschießen.
ZEIT ONLINE: Offenbar hast du dir deinen Optimismus in den letzten 25 Jahren nicht austreiben lassen – auch wenn alle zehn Spoiler wahr geworden sind. Ich danke dir für das Gespräch!